Zweiundzwanzig prominente Wirtschaftsprofessoren fordern in einem offenen Brief den vollständigen Rückzug des Rentenpakets der Bundesregierung, über das der Bundestag Ende November abstimmt und das am 1. Januar in Kraft treten soll. Das Paket sei viel zu teuer, lautet die Begründung. Es verschärfe „die demografisch bedingten strukturellen Probleme des Rentensystems“ und führe „zu einer zusätzlichen Lastenverschiebung zwischen den Generationen – zulasten der Jüngeren“.
Unterzeichnet haben fast alle, die in den Wirtschaftswissenschaften Rang und Namen haben: Die drei Wirtschaftsweisen Monika Schnitzer, Veronika Grimm und Martin Werding, der frühere Vorsitzende der Wirtschaftsweisen Bert Rürup sowie die Chefs der Wirtschaftsinstitute Ifo (Clemens Fuest), IW (Michael Hüther), Kiel (Moritz Schularick) und Walter Eucken (Lars. P. Feld). Auch der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des Finanzministeriums von SPD-Chef Lars Klingbeil, Jörg Rocholl, hat den offenen Brief unterschrieben.
Das Schreiben ist ein typisches Beispiel dafür, wie angebliche Wissenschaft missbraucht wird, um eine politische Agenda voranzutreiben. Die Professoren reihen sich in den Chor der Wirtschaftsverbände, der Jungen Union und anderer Interessenvertreter der Wohlhabenden ein, die der Regierung vorwerfen, dass sie den Angriff auf die Renten einer Kommission übertragen hat, die ihre Arbeit Anfang 2026 aufnehmen soll, anstatt ihn sofort zu beginnen.
Zuvor hatten bereits 32 Wirtschaftsverbände in einem Brandbrief an die Regierungsparteien gegen das Rentenpaket protestiert. Damit werde „die Tragfähigkeit des Rentensystems endgültig überdehnt“, heißt es darin. Es sei weder generationengerecht noch finanzierbar.
Die Wirtschaftsverbände fordern die Abschaffung der abschlagsfreien vorzeitigen Rente für langjährig Versicherte („Rente mit 63“), höhere Abschläge für Frührentner sowie eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters über 67 Jahre hinaus. Zu den Unterzeichnern zählt der Arbeitgeberverband Gesamtmetall, der Außenhandelsverband BGA, der Bauverband ZDB, der Handelsverband HDE, die Familienunternehmer und der Mittelstandsverband BVMW.
Die Junge Union, die Jeunesse dorée (‚Vergoldete Jugend‘) von CDU und CSU, spielt den politischen Vorreiter beim Angriff auf die Renten. Vor einer Woche bereitete sie Kanzler Merz deshalb auf ihrem Deutschlandtag einen frostigen Empfang. Ihre 18 Bundestagsabgeordneten drohen sogar, im Bundestag gegen das Rentenpaket zu stimmen – was die Regierung die Mehrheit kosten und die Koalition mit der SPD gefährden würde. Kaum jemand glaubt allerdings, dass die Karrieristen der JU soweit gehen werden.
Stein des Anstoßes ist, dass das Rentenpaket der Regierung die in diesem Jahr ausgelaufene Untergrenze des Rentenniveaus von 48 Prozent bis 2031 fortschreiben will. In der Praxis bedeutet dies, dass ein Standardrentner mit 45 Versicherungsjahren ungefähr 48 Prozent seines letzten Bruttoeinkommens als Bruttorente erhält. Die Nettorente ist wegen geringerer Abgaben etwas höher. Wird die Untergrenze nicht festgeschrieben, sinkt die Rente aufgrund des 2005 von der SPD eingeführten Nachhaltigkeitsfaktors unter 48 Prozent.
Auch die sogenannte Mütterrente, die auf Initiative der bayrischen CSU durch das Rentenpaket erweitert wird, steht unter Beschuss. Anders als bisher soll Müttern oder Vätern auch für Kinder, die vor 1992 geboren wurden, eine beitragsfreie Erziehungszeit auf die Rente angerechnet werden.
Die Gegner des Rentenpakets behaupten, es bevorzuge die Alten zulasten der Jungen, die höhere Beiträge und steigende Staatsschulden zu schultern hätten. In den Medien wird dieses Thema endlos breitgewalzt. Mithilfe demografischer Statistiken wird nachgewiesen, dass eine schrumpfende Zahl von Beitragszahlern eine wachsende Zahl von Rentnern finanzieren muss. Im deutsche Umlagesystem werden die Rentenbeiträge nicht in Fonds angelegt, sondern direkt an die gegenwärtigen Rentner ausbezahlt.
Aber das ist verlogene Demagogie. Die wirkliche soziale Kluft verläuft nicht zwischen Jung und Alt, sondern zwischen Arm und Reich. Das Verhältnis zwischen Arbeitenden und Rentnern verändert sich zwar aufgrund der längeren Lebenserwartung und niedrigerer Geburtenraten, aber dies könnte leicht durch den technischen Fortschritt ausgeglichen werden, der es ermöglicht, mit wesentlich geringerem Arbeitsaufwand mehr Gebrauchsgüter herzustellen. Stattdessen fließen die Erträge des wirtschaftlichen Fortschritts auf die Konten der Reichen – und immer mehr in Krieg und Aufrüstung.
Die Rentenbeiträge werden ausschließlich von Lohnabhängigen und (auf freiwilliger Basis) von Selbständigen getragen. Dabei gilt eine Obergrenze von 8050 Euro im Monat. Wer mehr verdient, muss darauf keine Beiträge entrichten. Und die gewaltigen Einkommen aus Aktien- und Immobilienbesitz, Finanz- und Spekulationsgeschäften gehen völlig frei aus. Sie tragen keinen Cent zur Finanzierung der Renten bei.
Als Folge reichen die Renten schon jetzt nicht zum Leben. Aber 50 Prozent der Menschen in Westdeutschland und 74 Prozent der Menschen in Ostdeutschland verfügen außer der Rente über keine andere Altersversorgung.
2024 lag die Armutsquote bei Senioren bei 19,6 Prozent, 1,2 Prozent höher als im Vorjahr. Sie verfügen über ein monatliches Nettoeinkommen unter 1378 Euro. 1,26 Millionen bezogen Grundsicherung im Alter, 4,1 Prozent mehr als im Vorjahr. Dieser Trend wird sich auch mit dem Rentenpaket der Bundesregierung fortsetzen. Die Haltelinie von 48 Prozent verhindert nicht den Absturz von Rentnern in die Armut, es verlangsamt sie höchstens ein wenig.
Die Renten im reichen Deutschland sind selbst im europäischen Vergleich niedrig. Mit 55,3 Prozent des letzten Nettoeinkommens liegen sie deutlich unter dem europäischen Durchschnitt von 68,1 Prozent. Mit durchschnittlich 1450 Euro pro Monat waren sie nominal etwa gleich hoch wie in Frankreich und Spanien.
Von den 402 Milliarden Euro, die die gesetzliche Rentenversicherung 2024 einnahm, stammten drei Viertel aus Beiträgen. Der Bund schoss 96 Milliarden Euro zu. Diese Summe ist ein Ergebnis der zahlreichen Aufgaben, die der Bund seit der Wiedervereinigung ohne entsprechende Einnahmen auf die Sozialkassen abgewälzt hat. Doch jetzt, da hunderte Milliarden in die Aufrüstung, in Subventionen für Unternehmen und in die Rückzahlung wachsender Schulden fließen, können „wir“ – in den Worten von Bundeskanzler Merz – uns den Sozialstaat in seiner bisherigen Form nicht mehr leisten.
Deshalb drängen Wirtschaftsverbände, Ökonomen, Politiker und Medien auf einen sozialen Kahlschlag. Dabei sympathisieren sie immer offener mit der Möglichkeit, die rechtsextreme AfD in die Regierung zu holen.
Das Web-Portal The Pioneer berichtete kürzlich unter der Überschrift „Wie sich die Wirtschaft der AfD annähert“: „Lange Zeit haben Unternehmer mit der AfD gehadert. Nun suchen Lobbyisten den Kontakt – einige subtil, andere ganz offen.“ Ignorieren lasse sich die AfD nicht mehr. „Einige Unternehmer erhoffen sich von der Partei wirtschaftsliberale Akzente, die sie bei anderen Parteien vermissen.“
Auch in der CDU werden die Stimmen lauter, die für ein Ende der „Brandmauer“ gegenüber der AfD eintreten.
Die Rechtsextremen werden gebraucht, um den Widerstand gegen den sozialen Kahlschlag einzuschüchtern und zu unterdrücken. Im Wahlprogramm der AfD findet sich zwar viel soziale Demagogie – wie die Forderung nach einem Rentenniveau von 70 Prozent. Doch das dient dem Ködern von Wählern. Die gleiche Partei tritt für den Abbau von Steuern und Schulden ein. Sie folgt damit dem Beispiel von Donald Trump, der im Wahlkampf mit sozialer Demagogie um sich warf, um sich dann nach der Wahl mit milliardenschweren Oligarchen zu umgeben und das reichste Kabinett in der Geschichte der Vereinigten Staaten zu bilden.
Die SPD und auch die Linkspartei haben immer wieder bewiesen, dass sie alle sozialen Angriffe unterstützen, wenn sie Mitglied einer Regierung sind. Die Verteidigung der Renten erfordert – ebenso wie der Kampf gegen Entlassungen, Faschismus und Krieg – die Entwicklung einer unabhängigen internationalen Bewegung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms. Die Banken, Konzerne und großen Vermögen müssen enteignet und die Wirtschaft auf Grundlage der sozialen Bedürfnisse statt des Profits reorganisiert werden.
